Dienstag, 25. Oktober 2016

Dreamgirl



Ich überquerte den Bürgersteig wobei ich Aufpassen musste nicht aus einer Schicht aus glitschigem Mulch aus Papierresten von Tüten und Verpackungen und faulenden Blättern auszurutschen. Der Eingang zur Bar war nur mit einem Tuch verhangen und die schwere Stahltür die eher an einen Bunkereingang erinnerte war nach außen geöffnet.

Ich holte einmal tief Luft um mich für mein erstes kriminelles Unternehmen zu stärken und bereute es sofort wieder, denn die Luft vor der Kneipe konnte im besten Fall keinen asthmatischen Anfall auslösen, stärken konnte es gar nichts. Dann schlug ich den Vorhang zurück und ging hinein. Drinnen sah es genauso herunter gekommen aus wie befürchtet. An einem Ecktisch saß ein Elf mit zwei Normfrauen, ein Ork hinter dem Tresen schenke an einen grauhaarigen Alten irgendein bräunliches Getränk aus. Die Mitte des Raumes wurde von einem Billarttisch mit einer flackernden türkisfarbenen Neonröhre eingenommen die wohl aus den besseren Zeiten des Etablissements stammte. Alles andere an der Bar war weitegehend in Schwarz gehalten, einstmals edel, inzwischen eher eklig.

Ich bemerkte, dass sich die Blicke der Anwesenden mir zugewandt hatten und ich wusste auch sofort warum. Während ich die Kleidung trug welche man bei der Evo-Corporation für außendienstliche Einsätze empfahl, nämlich die mit dünnem Kevlar und Kunstseidengewebe verstärkte Jacke mit dazu passender Hose, herrschte in dieser Kneipe eine Mischung, aus Kunstleder, Camouflage und nietenbeschlagenem Kevlar vor. Ich passte in diese Kneipe wie eine Primaballerina in ein Urban-Brawl-Team. Doch was sollte ich machen? Draußen vor der Tür lauerten menschliche Bestien, die eine leichte Beute wie mich zum Frühstück foltern, zum Mittag vergewaltigen und meine Organe zum Abendessen an eine Organbank verkauften. Ich musste sehen dass ich mich hier irgendwie durch redete. 

Der Ork hinter dem Tresen schien den Schrecken meines Anblicks verdaut zu haben, spuckte in ein Glas und wischte es dann mit einem fleckigen Tuch vermeintlich sauber.  Ich überprüfte mit meiner AR-Brille kurz was ich befürchtet hatte. Ich war in „Ray’s Bar“ gelandet und nicht in der „Rails Bar“. Nun gut, was hatte meine Mutter immer gesagt? Aufstehen, Krönchen richten, weiter gehen. Ich faste mir also ein Herz und ging auf den Ork zu und fragte: „Bekommt man hier auch ein Bier?“ Er musterte mich von oben bis unten und fragte im typischen Orkslang, der lauf der führenden Logopäden durch die vorstehenden Eckzähne begünstigt wurde: „Willse Glas oa Flasche?“. Eingedenk der Geschirrreinigungsmethoden dieser Gaststätte entschied ich mich für die

Flaschenvariante und fand außerdem, dass es mich sicher cooler wirken ließ wenn ich aus der Flasche trank. Der Barkeeper langte unter den Tresen und holte eine Flasche Soybier hervor, öffnete sie mit den Zähnen und spuckte einen rostigen Kronkorken in ein Glas vor sich auf den Tresen. Er reichte mir die Flasche mit dem fleckigen Etikett und grunzte: „Tswei Nuyen.“ Ich gab den Betrag über meine AR-Brille von meinem Konto frei, ergriff meine Flasche und drehte mich so, dass ich mit dem Rücken am Tresen lehnte. Leider kam ich nicht dazu mir Gedanken um die einzelnen Leute zu machen, den der Elf hatte sich von seinen beiden Trinkkumpaninnen getrennt und kam nun mit der lässigen Nonchalance, welche den meisten Womanizern inne wohnt, auf mich zu. Die schwere Panzerjacke knarzt leise als er sich vor mir aufbaute, er war für einen Elfen nicht besonders groß. Er lächelte mich an und fragte: "Glaubst Du an Liebe auf den ersten Blick oder soll ich noch mal rein kommen?"

Ich zog eine Augenbraue hoch und versuchte nicht zu Lachen. In Kreisen wie diesen musste man cool und gelassen wirken, auch wenn dieser Aufschneider durchaus ganz ansehnlich war. Ich wollt hier zwar jemanden Treffen, aber sicher nicht für diese Art von Biochemie. Bestimmt nahm dieser Typ eine ganze Apotheke voller Drogen. Alle Gossenpunks taten das. Ich lächelte also selbst und sagte, während ich einen deutschen Akzent immitierte: "Lass mal, ich suche eher nach was anderem." Er sah mich mit einem Blick an der mich befürchten ließ er würde mir direkt die Zunge in den Hals stecken wollen und antworte "Alles was Du willst, Schönheit." Ich lehnte mich mit einer Verschwörermine zu ihm herüber und flüsterte: "Ich suche nach Drogen. Alle zu Hause sagen, dass es in den UCAS die besten Drogen gibt."
Er lächelte so gewinnenden als würden wir einander schon seit Jahren kennen: "Süße, ich kann Dir Freuden zeigen die jenseits aller chemischen Stimmungsmacher liegen." Alles klar, der Typ war ein Zuhälter und die beiden Mädels seine Nutten. Wobei sie nicht wirklich wie Nutten gekleidet waren.
"Ach, ehrlich? Und was sagen deine beiden Freundinnen da drüben dazu? Ich bin sicher das sind deine Cousinen?" Ich deutete mit einem leichten Kopfnicken in die Richtung der beiden Frauen an dem Ecktisch, von denen die eine unverhohlen zu uns herüber sah und offensichtlich die Show genoss. 

"Nein, das sind eher...Arbeitskolleginnen."
"Ja, sicher. Und das ist eure Aufsichtsratssitzung?"
"Das da vorne ist Ari und die andere ist Mara. Ich bin Pretty Joe und Du kannst es Dir gerne ansehen, wenn Du willst. Wie heisst Du eigentlich? Und was kannst Du denn?"
"Ach Namen sind nur Schall und Rauch. Und ich kann Chemie."
"Chemie?" er sah mich an als hätte ich ihm gerade in den Soykaff gepinkelt.
Ich nickte.
Er inspizierte mich noch einmal, dann nickte er und veranstaltete irgendwas mit seinem Komlink. Wahrscheinlich kommunizierte er mit Mara und Ari. Schließlich sagte er: "Na dann komm mal rüber, an unseren Tisch." Ich ergriff meine Bierflasche von der ich in Todesverachtung tatsächlich einen Schluck genommen hatte ohne, dass mir direkt übel wurde.
"Das hier sind Mara und Ari und das hier..." er deutete auf mich "...ist Dreamgirl. Ari, ist bei deinem Schieber noch Geld für einen Chummer drin?"

Der Name Dreamgirl, gefiel mir irgendwie nicht auch wenn es nett klang wie er ihn aussprach, aber er ließ mich vor den anderen ziemlich hart dreinblickenden Rockerladies irgendwie als Tussi dastehen. Ich beeilte mich daher mir nun doch einen Namen zu geben. In diesen Gegenden war es sicher nicht gut seinen echten Namen auszuposaunen, oder zumindest den auf seiner SIN. In der Serie mit dem Chemielehrer hatte er sich Heisenberg, nach dem deutschen Physiker und Nobelpreisträger Karl Werner Heisenberg, genannt. Ich überlegte es ihm gleich zu tun, fand den Namen aber durch die Serie nun verbraucht. Die einzige Chemikerin die mir einfiel war Anette Beck-Sickinger, ebenfalls eine Deutsche, Biochemikerin, sie hatte auf dem Gebiet der Peptid-Rezeptor-Wechselwirkungen einiges geleistet. Allerdings nicht zu vergleichen mit der Heisenberg'schen Unschärfe-Relation und der Quantenmechanik. Somit wählte ich den einzigen Namen der mir spontan einfiel und sagte: "Mein Name ist Sally und ich bin Biochemikerin."

Die Frau, die mir als Ari vorgestellt worden war sah mich misstrauisch an. Dann wandte sie sich mit fragendem Blick an Joe. "Eine Chemikerin? Was für'n Zufall."
Beide schienen kurz über irgendeine Verbindung zu kommunizieren.
Schließlich fragte sie mich: "Für wen arbeitest Du?"
Ich verstand es eher als eine Frage nach meinen Referenzen und antwortete: "Ich habe am M.I.T. studiert und habe zuletzt für die Forschung von Evo-Gearbeitet. Ich war wirklich, wirklich gut. Ich kann nahezu alles kochen, destillieren, filtern und analysieren was man sich denken kann, wenn ich ein Labor habe. Bei Evo hatte ich ein geiles Labor, das glaubt ihr nicht. Wir konnten gerichtete Phenyl- oder Ethylgruppen an spezielle Loci einzelner Proteine anfügen. Wir hatten ein Rasterelektronenmikroskop mit dem man...." ich bemerkte wie Mara, Ari und Joe mich ansahen als hätte ich meinen BH über die Jacke angezogen und unterbrach meinen Redeschwall: "...nun ja, leider habe ich derzeit kein Labor und wollte fragen ob ich bei Euch einsteigen kann."
Mara nimmte an ihrem Bier und fragte: „Und warum bist Du nicht mehr in deinem schicken Labor?“
Ich lächelte entschuldigend: „Das lag an meinem Chef.“
Ari sah mich direkt an und das Mistrauen in ihrer Stimme war nicht zu überhören: "Wer schickt Dich?"

Ich lächelte "Niemand, ich bin aus freien Stücken hier, weil ich… Wenn ich nicht schnell an Geld komme, bin ich Ende des Monats pleite." Wenn ich mir noch mehr Taxifahrten gönne schon Ende der Woche, fügte ich Gedanken an.
"Also ich hab da ne Idee wie Du gleich da hinten Geld verdienen könntest...." grinste Joe und deutete auf eine Tür hinter dem Tresen.
Mara rollte mit den Augen und murmelte: "Pretty!"
"Ich suche zwar gerade nach einem Job, aber ich dachte an was wo ich meine Sachen anbehalten kann." erwiederte ich.
Ari wandte sich an Joe: "Das stinkt doch. Kannst du sie irgendwie überprüfen?"

In dem Augenblick spürte ich wie sich irgendetwas um meinen Kopf – nein, eher um meinen Verstand - oder besser meine Seele zusammen zog. Es war als würde sich eine Hand um alles schließen was mich ausmachte, alle Träume, alle Wünsche, alle Erinnerungen, alle trivialen Gedanken die ich so nebenbei gehabt hatte und dann war es als versuche ein Finger dieser Hand sich zwischen diese Gedanken zu schieben. Aber er konnte nicht hinein. Bestimmt war das irgendeine Magie. Ich hatte mal gelesen, dass Magie weitgehend auf Täuschungen basierte, die sich unser logisches Denken eben nicht anders erklären kann und dann eben sich selbst die Auswirkung der Magie als logischste Konsequenz selber suggeriert. Ich redete mir ein, dass es nicht möglich war dass jemand mit seiner Hand meinen Geist umfasste und dass es noch unmöglicher war, dass man mit einem Finger in den Geist eindringen kann. Es funktionierte, der Finger prallte auf eine Wand. Meine Gedanken waren wie hinter einer Gummiwand. Ich spürte den Druck des Fingers, doch er konnte nicht herein. Schließlich ließ der Druck nach.

Ich merkte, dass ich die Augen geschlossen hatte und mir mit beiden Händen die Schläfen massiert hatte. Mara und Ari beobachteten Pretty Joe und mich aufmerksam. Hatte er gerade versucht mich zu verzaubern? Echt jetzt? Pretty Joe war ein Magier? 
"Sag mal, versuchst Du gerade irgendeine Magiescheiße bei mir?" fragte ich ihn deutlich aggressiver als ich eigentlich wollte.
Er atmete einmal tief durch und strich sich dann eine seiner blonden Strähnen aus der Stirn und seufzte: "Okay, Dreamgirl, wir müssen wissen ob Du keine Spionin oder Saboteurin bist. Ich kann das mit einem Zauber heraus finden, aber wenn Du dich dagegen wehrst klappt es nicht. Würdest Du mich also bitte nachsehen lassen?" 
"Wo?"
"In deinem Geist"
Ich rutschte ein Stück mit meinem Stuhl zurück: „Vergiss es! In meinem Kopf sind Forschungsergebnisse im Wert von Milliarden Nuyen, für die manch ein Konzern töten würde!"
"Ich verspreche Dir, dass ich diese Teile deines Gedächtnisses in Ruhe lasse."
Klang nicht sehr vertrauenerweckend. Doch da kam mir eine Idee. Die Forschungsdaten waren weitgehend wertlos. Evo hatte sie noch und ohne mich konnte kaum ein anderer Konzern was damit anfangen. Aber ich war unbewaffnet in einer der übelsten Gegenden von Seattle gelandet. Mit Hilfe eines Magiers sollte ich hier ohne Probleme wieder weg kommen uns sparte vielleicht das Taxi.
"Okay, Du schaust nicht auf meine Vorlieben, Hobbys, PIN-Nummern oder Forschungsgedanken und Du bringst mich am Ende dieses Abends bis vor meine Haustür nach Tacoma, dann haben wir einen Deal."
"Schönheit, ich bringe Dich wohin Du willst. Deal."

Und schon spürte ich wieder die Hand an meinem Geist. Dieses Mal aber sie umspühlte mich dieses Mal eher wie warmes Wasser ein Rinnsal floss zwischen meinen Gedanken hindurch wie Quellwasser sich den Weg durch Fliesenfugen sucht und drang in das Mosaik meiner Gedanken ein.
Schließlich hatte das Rinnsal den Kiesel erreicht den es gesucht hatte. Ich merkte dass Pretty Joe sah, dass alles was ich gesagt hatte wahr war und dass ich keinen Auftraggeber hatte. Der Wasserfluss versiegte das Rinnsal trocknete aus. Mein Geist war wieder frei.
"Sie ist sauber." gab Joe bekannt. Ich sah ihn an und war beeindruckt. Pretty Joe war ein Aufschneider, ein Macho und Schürzenjäger, aber er hatte alles was mein Liebesleben betraf tatsächlich in Ruhe gelassen. Er war offenbar vertrauenswürdiger als er sich gab. Ich war dankbar, dass er nicht die Sache mit Pat Rogers auf der High-School herausgefunden hatte, Pat hatte sich später in einen Gnom verwandelt.

"Okay Dreamgirl, dann lass mal hören ob Du mitmachen willst. Laut Aris Schieber haben wir noch Budget für eine weitere Person bekommen. Du bekommst 2000 Nuyen und die Sache muss Übermorgen vorbei sein. Was sagst Du?"
"Ich muss aber nichts gefährliches machen oder?"
"Du kannst deine Klamotten dabei anlassen, das war doch deine Vorgabe oder?" warf Joe ein.
Nun ja, da war der Moment wo ich die Hosen runter lassen musste. Ich überschlug kurz: Top oder Flop. Nächste Woche pleite oder ich könnte weitere zwei Monate überleben wenn ich etwas sparsam wirtschaftete. Klar, ich konnte auch bis übermorgen erschossen werden. Wahrscheinlich war erschossen werden ein angenehmerer Tod als auf dem Sofa meiner winzigen Wohnung zu verhungern.
"Ich bin dabei."
Meine drei neuen Teammitglieder lächelten und Pretty Joe sagte:
"Willkommen in den Schatten."

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Quellenangaben:
Spielleitung: Shadow
Regelwerk: Shadowrun 5

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